13. Internationale Musikwoche der TU Dortmund

"Septem Verba" (Giovanni Battista Pergolesi) - Dortmunder Fassung (Chorergänzung Reinhard Fehling)

Solisten:

Michael Dahmen (Bariton): Christus

Ira Maria Scholz (Sopran): Anima I,

Berit Tenhaven (Alt): Anima II,

Tjark Baumann (Tenor): Anima III


"Stabat Mater" - (Giovanni Battista Pergolesi) Wiener Fassung



Ausschnitte aus dem Konzert am 20. Juli in der Propsteikirche zu Dortmund:

Verbum III "Mulier ecce" - "Servator optime"

Verbum IV "Deus meus" - "Afflicte, derelicte"

 

 

 

‚Einem Werk sein Gesicht geben‘

 

Anmerkungen zur bewegten Geschichte eines verlorenen Oratoriums

 

Die Geschichte des Werks ist ebenso geheimnisumwittert wie ihr mutmaßlicher Schöpfer. Stammen die ‚Septem verba a Christo in cruce moriente prolata‘ von Pergolesi oder handelt es sich um eine fälschliche Zuschreibung an den 1736 im Alter von nur 26 Jahren verstorbenen Komponisten des ‚Stabat mater‘? Was die Kopisten jener Zeit noch für ein Werk des ‚Signore Pergolese‘ hielten und was für diejenigen, die daraus musizierten und ihre Zuhörer eine ergreifende Vergegenwärtigung des Kreuzigungsgeschehens war, ließ später die „Echtheitsfrage“ entflammen. Der Dirigent Hermann Scherchen (1891 – 1966) beantwortete sie, indem er die Aufmerksamkeit auf das über einstündige, mit vier Vokalsolisten, Trompete, zwei Hörnern, Harfe, Streichern und Basso continuo farbig besetzte Werk selbst lenkte und als ‚eines der innigsten Kunstwerke, voll von Sanftmut, tiefstem Empfinden und alles überstrahlendem Schönheitsgefühl‘ beschrieb. Sein Urteil blieb jedoch ungehört.

Erst in jüngster Zeit nahm der Verfasser den Faden wieder auf und setzte Stein für Stein dieses spannenden Geschichtspuzzles zusammen.

 

Der Ausgangspunkt

Der Titel des Werkes und die Angabe der Urheberschaft Pergolesis geistern seit mehr als hundert Jahren durch die Musikforschung. Anfangs basierten sie allein auf einer unvollständigen Abschrift, die auf dem Deckblatt ‚Oratorium - Verbum Christi de Cruce‘ und ‚Authore Signore Pergolese‘ vermerkt und Verbum III und IV in Partitur enthält. Sie wurde 1882 in der Bayrischen Staatsbibliothek katalogisiert und vom musikwissenschaftlich versierten Bibliothekar Julius Joseph Maier (1821 – 1889) im Unterschied zu anderen, dort gleichfalls vorliegenden und ursprünglich Pergolesi zugeordneten Abschriften, für echt befunden. Diese Einstufung übernahm Robert Eitner für sein als Standardwerk geltendes ‚Biographisch-Bibliographisches Quellenlexikon‘ (1902), das unter Pergolesis geistlichen Werken die ‚Septem Verba‘ an zweiter Stelle als ‚nachweisbare Komposition‘ aufführt.

 

Das Metten-Manuskript

Bewegung in die Forschungslage brachte der Fund einer vollständigen Stimmenabschrift durch Bertha Antonia Wallner. Sie hatte die nach der Inventarisation der Bestände (1926 – 1928) in der Benediktinerabtei Metten aufgetauchte Stimmenabschrift ausgewertet und 1936 der Fachwelt bekannt gemacht. Es handelte sich dabei um eine von Lambert Kraus, dem damaligen Direktor des Klosterseminars, zugleich Lehrer der Singknaben und Chorregent veranlasste Abschrift mit dem Deckblatt ‚Septem Verba À Christo In Cruce Morituriente Prolata. Del Sig: Pergolese. Ex Rebus P. Lamberti Kraus. Profess: in Metten 1760‘. Kraus komponierte und dichtete auf Deutsch und Lateinisch (man nannte ihn deshalb ‚Mettener Cicero‘) und galt als Prototyp des kunstsinnigen Rokokoprälaten. Seit 1770 leitete er die Abtei und führte sie zu kulturellen Höhen.

Wallner führte, ohne das Werk als Partitur darzustellen, eine Stilanalyse durch und kam zu dem Schluss, dass es sich um ein frühes Werk Pergolesis handeln müsse. Wallners Entdeckung und Einschätzung blieb allerdings editorisch und wissenschaftlich folgenlos.

 

Das Zürich-Manuskript

Ein weiterer Forschungsstrang beginnt mit der Auswertung einer Stimmenabschrift in der Zürcher Zentralbibliothek durch den Dirigenten Hermann Scherchen Anfang der 50-er Jahre des 20. Jahrhunderts. Sie war 1917 aus den Beständen der seit dem 17. Jahrhundert rührigen ‚Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich‘ als Depositum dorthin gelangt und gibt als Titel und Autor auf dem Deckblatt und vor jeder einzelnen Stimme an: ‚Septem Verba a Christo in Cruce moriente prolata – Oratorio des Sigr Pergolese‘. Ohne Kenntnis der anderen Abschriften stellte Scherchen die säuberlich geschriebenen Stimmen zu einer Partitur zusammen. Ein vom ihm handschriftlich wiedergegebener stilfremder Klavierauszug diente dann der Pergolesi-Forschung als alleinige Basis für die Aussonderung aus dem gesicherten Werkkatalog. Wegen der hohen Anzahl von Fälschungen und falschen Zuschreibungen hatte inzwischen ein Paradigmenwechsel stattgefunden, in dessen Folge fast nur noch Originalmanuskripte Pergolesis als echt anerkannt wurden. Die vom Zürcher Pergolesi-Forscher Antoine E. Cherbuliez 1954 angemahnte Auswertung und Gegenüberstellung der bis dahin bekannten Quellen der ‚Septem Verba‘ unterblieb.

 

Das Kremsmünster-Manuskript

Eine neue Wendung trat erst ein, als der Verfasser 2009 ein unbekanntes, anonymes Stimmenkonvolut im niederösterreichischen Stift Kremsmünster entdeckte, das mit den bis dahin bekannten im Wesentlichen identisch ist. In seiner bewegten Geschichte – es war als Beute in den Kriegswirren von amerikanischen Soldaten 1945 in die USA verbracht und erst 1991 von der Universität Berkeley nach Kremsmünster zurückgegeben worden – hatte es Umschläge und mit ihnen den Hinweis auf seinen Urheber verloren und war daher unbeachtet geblieben. Das Stift, wo es um 1760 inventarisiert worden war, gilt als eine der zentralen Bastionen italienischer Musik nördlich der Alpen und besitzt zudem eine fundierte Dokumentation der Beziehung früherer Stiftsmusiker zu Italien, unter denen vor allem Franz Sparry (Italienreise 1740 mit den Stationen Rom, Venedig und Neapel)) speziell zu Vertretern der neapolitanischen Schule (u.a. Durante, Feo, Leo, Pergolesi) persönliche oder durch das Vor-Ort-Studium ihrer Werke vermittelte Kontakte hatte. Mehrfach, u.a. auch in der ‚Allgemeinen Musikalischen Zeitung‘ (Breitkopf & Härtel, 1829), wird sogar von einer persönlichen Begegnung von Sparry und Pergolesi berichtet. Sie soll anlässlich einer stürmischen Überfahrt auf der Adria stattgefunden haben, bei der ihr Schiff von einem ‚tripolitanischen Kaper‘ verfolgt und aufgebracht wurde, und das ‚Kunstbrüderpaar‘ nur durch den Zufall, dass ein Orkan den Mast des Freibeuters zerknickte, vor Gefangennahme und Sklaverei gerettet wurde. Dieses Erlebnis habe die beiden zusammengeschmiedet und ein ‚trauliches Verhältnis‘ begründet, in dessen Ergebnis der italienische Meister dem Bildungsreisenden aus der Habsburger Monarchie (die bis 1734/35 noch Neapel beherrscht hatte und einem regen transalpinen Kulturaustausch förderlich war) Abschriften seiner Werke gegeben haben soll. Diese Schilderung ist schon wegen der Inkongruenz der Jahreszahlen sicher nicht ganz zutreffend, doch der Kern der Geschichte ist dokumentiert: Seit dieser Zeit befinden sich in Kremsmünster Abschriften jener Werke, die in dieser abenteuerlichen Anekdote erwähnt werden. Auch die ‚Septem Verba‘ gehören in diesen Kontext und erhalten so eine plausible und direkte Verbindung zu neapolitanischen Ursprüngen.

 

Die Zusammenführung der Quellen

Durch die Entdeckung des Kremsmünster-Manuskriptes war nun der Zeitpunkt gekommen, die verschiedenen Quellen – inzwischen immerhin vier – miteinander zu vergleichen und zu bewerten. Der textkritische Quellenvergleich ergab, dass das Zürich-Manuskript signifikante Übereinstimmungen mit dem Metten-Manuskript aufweist. Beide Manuskripte gehen zweifellos auf eine gemeinsame Vorlage zurück, auch wenn sie sicher nicht direkt voneinander abstammen. Ein ähnliches, hier sogar noch engeres Abhängigkeitsverhältnis zeigt sich bei den beiden anderen Manuskripten: Wie aus vielen Einzelheiten abzuleiten ist, nicht zuletzt auch durch die Übereinstimmung in Eigentümlichkeiten und kleinen Fehlern, diente das Kremsmünster-Manuskript dem Münchener als Vorlage. Diese unscheinbare Tatsache hat große Folgen, denn da es sich um dasselbe Werk handelt, ist ihm auch derselbe Urheber zuzuordnen: Giovanni Battista Pergolesi. Erstaunlich, wenn auch für den Kenner nicht wirklich überraschend, dass mit dieser Indizienkette die Frage der Echtheit bei den ‚Septem Verba‘ günstiger beantwortet werden kann, als bei manchen als echt geltenden Werken Johann Sebastian Bachs.

 

Die Rezeptionsgeschichte

Aus dem Studium der Manuskripte und der für Spieler bestimmten Eintragungen in den Stimmen ergab sich, dass sie alle (mit Ausnahme des Münchener) die Grundlage für Aufführungen waren. Damit sind starke Hinweise auf eine lebendige Rezeption des Werkes um die Mitte des 18. Jahrhunderts, besonders in süddeutschen Klöstern (u.a. Aldersbach und Metten) gegeben. Selbst noch im protestantisch-reformierten Zürich haben zu jener Zeit Passionsmusiken im Grossmünster und ähnliche Konzerte im Musiksaal beim Kornhaus stattgefunden, für die zwischen 1770 und 1772 im Zuge der dortigen intensiven Pergolesi-Pflege auch eine Aufführung der ‚Septem Verba‘ belegt ist. In diesem Zusammenhang ist im dortigen Verlag David Bürkli ein auf 24 Seiten gedrucktes Textbuch mit deutscher Übersetzung erschienen – auch dieses mit der Angabe ‚von Herrn Pergolese in Music gesetzt‘.

Noch wichtiger als diese rezeptionsgeschichtlichen Fakten ist aber die Erkenntnis, dass alle Handschriften auf die im Prinzip gleiche Werkgestalt verweisen, und es damit erstmals möglich wurde (auf der Basis der Leitquelle des Kremsmünster-Manuskriptes und unter abgestufter Zuhilfenahme der anderen), eine kohärente, eindeutige Partitur zu erstellen.

 

Die stilistische Einordnung

Ausführliche und detaillierte Vergleiche[1] mit thematisch ähnlich gelagerten Werken Pergolesis (‚Stabat Mater‘, ‚Salve Regina‘, am aussagekräftigsten davon das außerhalb Italiens wohl unbekannte und gleichfalls erst sein vor kurzem als Autograph wiederentdecktes Oratorium ‚La morte di San Giuseppe‘) haben, gerade unterhalb der Ebene der leicht zu imitierenden Stilmerkmale, tief- und weitgehende Parallelen ergeben, die geeignet sind, die Echtheit des Werkes zu bestätigen.

Bei einem Werk wie diesem ist die Frage nach seinem intendierten und praktizierten Aufführungszusammenhang von besonderer Wichtigkeit. Seine besondere Wirkung kann dieses meditative, den sogenannten ‚Sepolcro‘-Oratorien benachbarte Werk am ehesten in der ‚Hebdomada sancta‘, möglicherweise (durch Predigten oder theologische Betrachtungen unterbrochen) am Karfreitag oder nach Teilen getrennt an verschiedenen Tagen zum Karfreitag hin, entfalten. Derlei Aufführungsbedingungen hat es durchaus bei den Oratorianern in Neapel gegeben und sie würden dem theologisch tiefgründigen und musikalisch eigentümlichen Werk auch auf seinem weiteren Weg gut zu Gesicht stehen.

 

Die neue Edition des Werkes und sein Weg in ein neues Leben

Die neue, akribisch aufgearbeitete Quellenlage veranlasste den Musikverlag Breitkopf & Härtel, eine textkritische Ausgabe auf der Grundlage neuester Erkenntnisse vorzubereiten. Dieses Material dient als Grundlage einer erstmaligen Aufführung auf dem Festival de Beaune. Damit ist dem Hörer die Möglichkeit gegeben, die Faszination des ungewöhnlichen Werks selbst zu erleben. Erst die lebendige Rezeption wird über den endgültigen Weg des Werkes in ein neues Leben entscheiden. Sie nimmt nun von Beaune ihren Ausgang. Die für 2013 geplante Veröffentlichung der Edition bei Breitkopf & Härtel wird zusammen mit der Aufnahme des Werks durch René Jacobs und der Akademie für Alte Musik beim renommierten Label Harmonia Mundi dem Werk weitere wichtige Impulse verleihen.

 

Reinhard Fehling



[1] Siehe hierzu: Reinhard Fehling: Septem Verba – ein Oratorium des ‚Signore Pergolese‘, Essen 2011, S. 245 - 336