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Lazarus - Franz Schubert (Original vervollständigt von Reinhard Fehling)
Campus Cantat 13
Aufführung in der Konzertaula Kamen am 27.02.2013
Kantate für die vorösterliche Zeit

Chor und Orchester Campus Cantat 2013

Solisten: Uta Schwarzkopf (Maria), Ira Scholz (Martha), Julia Grüter (Jemina),

Matthias Koziorowski (Nathanael), Mario Tardivo (Lazarus), Michael Dahmen (Simon).

 

Video der Aufführung in der Konzertaula Kamen am 27.02.2013 (YouTube)

Video: Canto General von Theodorakis/Neruda (YouTube)

 

‚Tod und Auferstehung‘, ‚Bedrückung und Befreiung‘ – in diese Begriffspaare lässt sich die thematische Ausrichtung von Campus Cantat 2013 (14. Internationale Musikwoche der TU Dortmund) fassen.

Die sakrale Seite dieser Thematik wird durch das Osteroratorium ‚Lazarus‘ von Franz Schubert repräsentiert. Schubert hat dieses fragmentarische und wenig gespielte Werk im zeitlichen Umkreis der ‚Unvollendeten‘ geschaffen (ab 1820) und es enthält Musik, die dieser ebenbürtig ist. Die Gründe für die Nicht-Vollendung liegen in beiden Fällen im Dunkeln. Mag sein, das Schubert sich von der geplanten szenischen Darstellung des handlungsarmen Stoffes immer weniger versprochen hat, mag sein, dass er durch andere, dringlichere Projekte von der Arbeit abgehalten wurde oder dass ihn der Mut verließ, ein Werk mit dem betagten Libretto (1778) des protestantischen August Hermann Niemeyer, noch dazu orientiert am zu jener Zeit überholten Stil des Pietro Metastasio und seiner ‚azione sacra‘, im katholischen Wien zum Erfolg zu führen. Von dem Werk liegt der komplette erste Teil (‚Handlung‘ genannt - beinhaltend Sterben, Paradieseshoffung und Tod des Lazarus) vor - und der Anfang des zweiten. Dass ein derartig groß dimensioniertes Werk, dessen vorliegender Teil schon mehr als eine Stunde dauert, im Schubertschen Freundeskreis als vollendetes unbekannt geblieben wäre, ist äußerst unwahrscheinlich und so ist davon auszugehen, dass er es nicht fertiggestellt hat. Die Aufführungsgeschichte des Torsos ist sehr sporadisch und von der Unsicherheit über seine Verwendung und Wirkung geprägt. Zwar hat der russische Komponist Denisov 1994 auf der Basis des Niemeyerschen Librettos eine Vollendung des Werkes unternommen, allerdings unter ausdrücklichem Verzicht auf die Schubertsche Stilistik. Die hochwertige Komposition mit einem starken Akzent auf den Chören, die in Schuberts ‚Lazarus‘ nur am Ende des ersten Teils vorkommen, hat zwar die Proportionen geglättet, zugleich aber aus dem Torso ein Hybrid gemacht.

Der musikalische Leiter von Campus Cantat Reinhard Fehling geht einen anderen Weg: Er belässt es bei dem von Schubert komponierten Teil, komponiert aber im Schubertschen Stil dort, wo die Texte der Arien kommentierend oder zumindestens nicht-individuell sind, Chorpassagen auf der Basis des originalen Orchestersatzes in diese hinein. Damit ist eine größtmögliche Nähe zum Original gewährleistet und es sind zugleich Pfeiler geschaffen, die eine Proportionierung der Architektur bewirken und das Werk tragen können. Vielleicht kann für eine lebhaftere Rezeption dieses großartigen Werkes die Uraufführung dieser angereicherten Fassung bei Campus Cantat Anstöße geben.

Der ‚Canto General‘, den Mikis Theodorakis seit den 1970er Jahren auf der Basis von Versen des chilenischen Dichters und Nobelpreisträgers Pablo Neruda komponierte, hat solchen Anschub nicht nötig, denn er gehört sicher zu deren meistaufgeführten Werken. Mit seiner von lateinamerikanischer Natur, Mentalität und Befreiungssehnsucht - sowie seiner von den irregulären Metren und den für unsere Ohren ungewöhnlichen Skalen der griechischen Volksmusik - inspirierten Note wurde es jedoch von den ‚klassischen‘ Musikern oft genug links liegen gelassen. Diese Besonderheiten und Vertracktheiten sind es auch, die diese Enthaltsamkeit, zugleich aber auch die unmittelbare enthusiasmierende, bei allem Pathos und aller Phantastik aber diesseitige Wirkung des Werkes erklären. Wenn auch bei Campus Cantat nur einige Teile daraus Werkes erklingen (eine Gesamtaufführung würde mehr als zwei Stunden dauern), so ist doch seine gesamte aufregende Wirkungsgeschichte (Militärputsch in Chile 1973, der eine Uraufführung dort verhinderte und seine triumphale Aufführung 1974 nach der Entmachtung des griechischen Obristenregimes) mitgedacht und steht zugleich für die soziale Funktion von Kunst und den völkerverbindenden Gedanken von Campus Cantat.

Der künstlerische Leiter Reinhard Fehling und der verantwortliche Organisator Klaus Commer fühlen sich diesem Gedanken besonders verbunden und wünschen sich für diese letzte Musikwoche unter ihrer Regie menschlich und künstlerisch ertragreiche Tage. Sie laden alle Freundinnen und Freunde diese Musikprojektes, neue und alte, aus den ausländischen Partneruniversitäten und aus dem Feld und dem Umfeld der TU Dortmund herzlich dazu ein.



Die 14. Internationale Musikwoche der TU findet statt vom 22. - 28. März 2013

Die Konzerte sind am 27. und 28. März.

 


 

 

Franz Schubert ‚Lazarus‘

von Reinhard Fehling

 

Im Februar 1820 nimmt sich im erzkatholischen Wien der damals 23-jährige Franz Schubert ein älteres Libretto (von 1778) des protestantischen Hallenser Theologen und Dichters August Hermann Niemeyer vor und komponiert große Teile davon binnen Monatsfrist. Ihm gelingt in dieser unvorstellbar kurzen Zeit ein in mehrfacher Hinsicht großer Wurf:

Er wendet auf dem Felde der oratorischen Form die Durchdringung von Wort und Ton, wie er sie in seinen Liedkompositionen auf höchstem Niveau erreicht hat, neu an, und greift

mit seiner Verflüssigung der Übergänge zwischen Rezitativ, Arioso, Lied und Arie und damit der weitgehenden Auflösung der Nummernfolge musikgeschichtlich seiner Zeit weit voraus und liefert

eine reife, persönlich und künstlerisch höchst inspirierte Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Tod - und was dann?‘

Bei dieser Sachlage verwundert es, dass dieses Werk im Konzertleben kaum eine Rolle spielt.

Welche Gründe könnten dafür maßgeblich sein?

Oft wird die fehlende Dramatik des Librettos angeführt und in der Tat: es gibt kaum Handlung in dem Stück, obwohl es für eine szenische Aufführung gedacht war und die Akte ‚Handlung‘ genannt werden. Stattdessen handelt es sich im ersten Akt um Betrachtungen, die vom sterbenden Lazarus und seinen Geschwistern (Martha – die mehr ängstliche, Maria – die eher gottvertrauende) über das Sterben zwischen Todesangst und Erlösungsvision angestellt werden. Beteiligt sind auch Nathanael, wie Lazarus ein Schüler Jesu, der von diesem über die zu erwartende Auferweckung des Sterbenden (Joh 11,41–44) Andeutungen erhalten hat, und Jemina, die Tochter des Jairus, die euphorisch von ihren Grenzerfahrungen zwischen Tod und Auferweckung durch Jesus (Mk 5,35-53 und Lk 8,49-56) berichtet. Im zweiten Akt wird von Niemeyer – ohne dass es für diese Gestalt eine biblischen Vorlage gäbe - aus dramaturgischen Gründen Simon, der Sadduzäer eingeführt, der an der Auferstehung zweifelt. Nach und nach gesellt sich zu den um den Sterbenden Versammelten ein Chor von Freunden, die Gott für Lazarus um einen gnädigen Tod bitten und ihn schließlich mit diesen zu Grabe tragen.

An dieser Stelle endet der ausgeführte bzw. bekannte Teil von Schuberts Vertonung. Aus dem Vorliegen des Anfangs einer weiteren Arie der Martha und der sukzessiven Entdeckung der verstreuten Originalhandschriften in den 1860er Jahren könnte man folgern, dass Schubert eine Vollendung des Werkes (es fehlen der Rest der zweiten und die komplette Dritte Handlung) im Sinn gehabt oder gar ausgeführt hätte. Die Forschung geht aber inzwischen mit einiger Sicherheit davon aus, dass Schubert die Vertonung abgebrochen hat. Über die Gründe ist zu spekulieren.

Fest steht, dass das Jahr 1820 eine arbeitsreiche und produktive Zeit für Franz Schubert war. In unmittelbarer Nachbarschaft ist die große Messe in As-Dur entstanden, die in vielen Merkmalen dem Lazarus vergleichbar ist. Auch inhaltlich könnte die Betrachtung dieser - und anderer reifer - Messkompositionen des Meisters einen Hinweis geben auf die Gründe für den Abbruch. Es fällt nämlich auf, dass Schubert im obligatorischen Glaubensbekenntnis (‚Credo‘) dieser Messen – neben dem Satz ‚credo in unam sanctam catholicam ecclesiam‘ – auch den, der den Glauben an die Auferstehung betrifft (‚et expecto resurrectionem mortuorum‘) unvertont gelassen hat. Was das im Wien jener Zeit hinsichtlich der Aufführungsmöglichkeiten bedeuten konnte, ist leicht vorzustellen. Vielleicht hat Schubert keine Chance auf eine Aufführung gesehen, vielleicht war es ihm aber auch genug, das Sterben und die Verklärung des Lazarus im Tode komponiert zu haben. Der Glaube an die Auferstehung, die Niemeyer entsprechend der Bibel für die Dritte Handlung vorgesehen hatte, scheint seine Gedanken jedenfalls nicht beherrscht zu haben.

 

Wenngleich diese Überlegungen erklären können, warum dieser ‚Lazarus‘ zu Schuberts Lebzeiten unbeachtet bleiben musste, beantworten sie nicht die Ausgangsfrage nach den Gründen für die allzu seltenen Aufführungen in der heutigen Zeit. Soweit sie das Werk selbst – und nicht Desinteresse oder Unkenntnis – betreffen, möchte ich einige Thesen wagen:

Die zu hohe musikalische Informationsdichte

Das heißt: Zu viele Ereignisse (z.B. Wechsel und Übergänge zwischen melodischen Vertonungstypen und kühne Harmoniefortschreitungen) finden in zu kurzer Zeit statt und erschweren so die Wahrnehmbarkeit der vielen Einzelschönheiten.

Das wenig tragfähige dramatische Konzept

Ist schon die Tatsache, dass die Titelfigur des Werkes bereits am Ende der Ersten Handlung stirbt, ein schwer zu meisterndes dramaturgisches Hindernis, so ist es die Verteilung einer vergleichsweise dürftigen Handlung auf sechs Protagonisten nicht minder. Lyrisch ist das Libretto ergiebiger, denn es bietet Schubert genügend Anregungen für eine phantasievolle Gestaltung.

Die architektonische Schwäche als Fragment

In diesem Zusammenhang ist besonders die Rolle des Chores von Bedeutung. Bei Schubert kommt er nur zum Ende hin zweimal vor. Dadurch sind die Proportionen in einem Ungleichgewicht und auch die Kommentierungs- und Gliederungsfunktion, die der Chor in anderen Oratorien hat, kommt nicht zum Zuge.

 

Aus diesen Überlegungen komme ich zu folgendem Schluss:

Eine Alternative zu einer vervollständigenden Komposition in anderer Stilistik, wie sie Edison Denissow 1995 unternommen hat, stellt die ‚Vervollständigung von innen heraus‘ dar. Dabei gehe ich davon aus, dass musikalisch mit dem abschließenden originalen (und sehr weihevollen) Chorsatz von Schubert ‚Sanft und still ruht unser Freund‘ das Werk einen abgerundeten (und außerordentlich wirkungsvollen) Abschluss findet. Was fehlt, sind die erwähnten Gliederungselemente, die ein erweiterter Chorpart ins Spiel bringen kann.

Aus diesem Grunde habe ich auf dem völlig unveränderten Grundriss des Stückes in die Arien der Maria, der Martha, der Jemina und des Nathanael kurze Chorpassagen eingefügt. Dabei blieb die Partitur Schuberts unangetastet, d.h. jeder von ihm niedergeschriebene Ton wird gespielt resp. gesungen, lediglich dort, wo die Arien nicht aus einer individuellen Perspektive gedacht sind, werden aus Instrumentalstimmen zusätzliche Chorstimmen destilliert (d.h. passend rhythmisiert bzw. textiert), die nur den jeweiligen dramatischen Gestus akzentuieren. Ein solches Verfahren fällt bei Schubert besonders leicht, weil auch seine instrumentalen Melodien ‚von Hause aus‘ Gesangsmelodien sind.

Es bleibt zu hoffen, dass auf diese Weise ein außerordentliches Werk aus seinem Schattendasein befreit werden kann und seine zahllosen und unendlichen Schönheiten noch deutlicher zutage treten.